In der Schule habe ich oft gefehlt, im FSJ nicht einen einzigen Tag!
Interview mit Martyna, FSJ mit 19 Jahren, Förderschule Kassel
Wie bist Du auf die Idee gekommen in einer Schule für Lernhilfe und Praktisch-Bildbare Schüler/innen Dein FSJ zu machen?
Das war Zufall. Ich hatte das Gymnasium nach der 12. Klasse abgebrochen und wollte erst mal ein Praktikum oder eine Ausbildung machen. Ich hatte Aussicht auf eine Ausbildungsstelle bei der Polizei. Aber das hätte mich nicht glücklich gemacht.
Meine damalige Freundin hatte auch bei Euch ein FSJ gemacht. Sie schwärmte immer so von den Kindern in der Schmorell-Schule. Und da ich genauso gerne mit Kindern umgehe, habe ich mir gedacht, gut – es ist ein Jahr. Probier es einfach mal. Ich habe mich gleich beworben und bin genommen worden.
Welches Bild hattest Du denn von Dir selbst, als Du das FSJ angetreten hast?
Ich stand für mich selber in einem Niemandsland. Ich wusste nicht, wer ich bin – ich wusste nicht, wohin mein Lebensweg mich führt.
Ich hing förmlich in der Luft. Die Menschen, die damals um mich herum waren, sagten, ich sei wie Falschgeld. Ich konnte mir keine eigene Meinung bilden, ich hatte ganz große Angst vor der Zukunft - ich konnte nichts planen. Dann fing das FSJ an und ich habe zum ersten Mal im Leben verstanden, was es heißt, gebraucht zu werden. Die Arbeit mit den Kindern war super. Sie hat mich erfüllt und mir auch gezeigt, dass ich ein Talent habe und doch nicht ganz talentlos auf die Welt gekommen bin. Obwohl ich „nur eine FSJlerin“ war, habe ich angefangen mit Spielkreisen, ich habe in den Ferien die Ferienspiele mitgemacht, ich habe in der Familienentlastenden Hilfe mitgearbeitet, mittags verschiedene Kinder begleitet. Mir wurde der auffälligste und aggressivste Autist anvertraut. Ich staunte über mich selbst, wie gut ich mit diesem Jungen zu Recht kam.
Was hat Dich in Deiner Persönlichkeit am meisten gefordert?
Zuallererst gab es das Gespräch mit der verantwortlichen Mitarbeiterin bei Lichtenau e. V., in dem ich meiner Einsatzstelle zugeteilt werden sollte. Das war ganz erstaunlich. Obwohl ich mit zitternden Knien vor dieser Frau saß und nicht wusste, was ich sagen sollte, sagte sie nach 10 Minuten zu mir: „Gut, Du bekommst dieses Kind zugeteilt. Es ist eins der schwersten Kinder, die wir haben. Ich rechne auch eigentlich fest damit, dass Du es aufgibst. Geh drei Tage in die Schule, lerne das Kind kennen und dann sagst Du mir, ob Du dort bleiben möchtest oder nicht.“ Sie war offensichtlich der festen Überzeugung, dass ich aufgebe. Ich habe geheult! Ich dachte, mein Gott, 12 Monate, das werde ich niemals schaffen. Ich war am ersten Tag schon so fertig, so ausgelaugt. So ging es weiter: jeden Tag aufs Neue so unter Stress zu stehen, sich beleidigen zu lassen und so behandelt zu werden von dem Kind, dass man eigentlich betreut. Es nimmt ja im ersten Moment gar nicht wahr, dass man die Betreuerin ist. Das war für mich ganz schrecklich. Ich hab dann trotzdem einfach den Sprung ins kalte Wasser gewagt und Gott sei Dank waren dann die Ferienspiele der allererste Einsatz. Es waren Kinder aus allen Einrichtungen dabei aus ganz Kassel, für uns fremde Kinder.
Ich denke besonders an ein Mädchen: wenn ich es heute sehe oder wenn ich mit den Eltern spreche, geht mir das Herz auf. Die Kleine läuft mittlerweile, sie war ein festes Rollstuhlkind. Sie konnte gerade mal stehen. Durch ein traumatisches Erlebnis konnte sie nicht mit „Gehfrei“ laufen oder mit Gehtrainern. Und wenn ich sie heute sehe – sie lacht, sie läuft alleine, sie geht alleine in die Pausen ohne Betreuung, ihr Wortschatz hat sich um 100 % erweitert, man kann mit ihr wirklich Unterhaltungen führen. Sie erzählt sogar Witze – und das im richtigen Augenblick. Ich war mir selber nie bewusst, dass ich dazu einen großen Beitrag geleistet habe. Ich hatte immer diese stolzen Erlebnisse mit ihr. Wenn sie irgendetwas geschafft hatte, dann hieß das für mich: Oh, Du hast das selber geschafft! Und dadurch habe ich selber gemerkt, Du kannst etwas schaffen. Zum Schluss habe ich wirklich gesehen, dass ich in diesem Beruf eine ganz große Zukunft habe. Einfach auch, weil ich gelernt habe, mit dem Herzen dabei zu sein. In der Schule habe ich oft gefehlt, im FSJ nicht einen einzigen Tag.
Du hast von Deinem FSJ erzählt und es lässt sich fast erahnen, welche Berufswahl Du getroffen hast.
Momentan bin ich im 1. Ausbildungsjahr zur staatlich anerkannten Erzieherin. Ich wollte eigentlich Logopädin werden. Das hat leider aus finanziellen Gründen nicht geklappt, obwohl ich eine Zusage hatte. Im November habe ich angefangen mit Antiaggressivitätstraining für kriminelle Jugendliche. Ich brauchte einfach mal was Neues. Ich bin momentan noch in der Nachsorge in einem Jugenddorf tätig. Das ist eine Einrichtung für sozial auffällige und kriminelle Jugendliche. Nebenbei arbeitete ich 2 Monate lang in der privaten Jugendhilfe für Heranwachsende und bin derzeit auch noch zum Ausgleich im Sicherheitsdienst tätig.