Welcher Religion man angehört und woher man kommt, spielt keine Rolle.
M., 20 Jahre alt, Tagespflege Westend, Kassel
Meine Gesprächspartnerin kommt gerade von der Spätschicht, es ist Spätnachmittag. Zeit für einen Kaffee. Sie legt Wert darauf, dass ihr Name nicht genannt wird. Sie möchte auch keine Geschichten über ihre Familie und ihre Herkunft erzählen. Das spiele unter den Freiwilligen keine Rolle. Man respektiert sich mit allen Unterschieden, welcher Religion man angehört, woher man kommt und in welcher Sprache man aufgewachsen ist, spielt keine Rolle. M.s Muttersprache ist Amharisch. Sie hat auch Tigrinya gelernt. In der Schule kamen Deutsch und Englisch dazu. M. ist 20 Jahre alt.
Wie bist Du auf die Idee gekommen, einen Freiwilligendienst zu machen?
Nach der Realschule habe ich keinen Ausbildungsplatz bekommen. Ich wollte Krankenpflege lernen. Weiter in die Schule zu gehen konnte ich mir nicht vorstellen. Ich wollte wissen wie es ist zu arbeiten und dabei auch etwas lernen. So kam ich auf den Freiwilligendienst. Leider war kein Platz mehr in der Pflege, in einem Krankenhaus frei.
Wo hast du dann einen Platz bekommen?
In der Arbeit mit alten Menschen bin ich jetzt eingesetzt. Meine Einsatzstelle heißt Tagespflege Westend und gehört zu den Diakoniestationen Kassel.
Kannst du dir vorstellen zukünftig in der Altenpflege zu arbeiten?
Nein, mein Ausbildungswunsch Krankenpflege ist geblieben. Und ich habe gestern die Zusage für einen Ausbildungsplatz bekommen! Gleich im Anschluss an den Freiwilligendienst. Für die Bewerbung war der Freiwilligendienst wichtig.
Herzlichen Glückwunsch zum Ausbildungsplatz! In den nächsten Monaten bist du aber noch in der Tagespflege. Welches sind deine Aufgaben?
Es ist weniger pflegerische Arbeit. Es geht bei uns um Tagesstruktur für die Menschen, die wir Gäste nennen. Wir reichen Essen, unterstützen beim Toilettengang, erinnern die an Demenz Erkrankten an Essen, Trinken und Toilette. Sie vergessen so viel und brauchen Struktur und klare Abläufe. Es gibt auch Arbeiten in der Hauswirtschaft, die nötig sind. Wir bieten Gedächtnistraining an, Gymnastik, Spaziergänge draußen im Viertel, Einkaufsgänge, wir gehen auch mal einfach bummeln und shoppen, wir spielen miteinander und finden andere Beschäftigungen über den Tag.
Gibt es auch Arbeiten, die dir schwer fallen?
Beim Essen, beim Toilettengang, da musste ich mich am Anfang überwinden. Es war nicht leicht sich nicht zu ekeln. Aber es ist mir gut gelungen. Das ist ja alles menschlich und ich weiß, ich darf in der Pflege keine Berührungsangst haben, keine Angst vor Blut, Urin oder Speichel.
Erlebt ihr auch Zeitdruck, wie es manchmal in der Pflege vorkommt?
Eher nicht, aber auch bei uns gibt es bestimmte Taktung: manchmal eine Viertelstunde Gymnastik, eine halbe Stunde Gedächtnistraining, In der Betreuung gibt es eine dauernde Anspannung. Man ist immer in Kommunikation, spricht, hört zu. Es gibt wenige Pausen, kaum Rückzugsmöglichkeiten. Man hat Verantwortung, man muss das Fallen verhindern, Unfällen vorbeugen und aufmerksam sein. Es ist anstrengend, aber erträglich. Wenn man aus der Schule kommt und diese Arbeit tut, ist es am Anfang sehr stressig. Jetzt traue ich mir aber mehr zu als in der Schule. Ich habe gelernt Kontakt aufzunehmen und zu kommunizieren, ich mache in der Arbeit viele neue Erfahrungen.
Wie ist das Miteinander an der Arbeit?
Wir sind zum Glück zwei 2 Freiwillige, so können wir uns austauschen und gegenseitig helfen. Das ist eine gute Gemeinschaft. Man verlässt sich aufeinander.
Eine von uns kommt immer zur Frühschicht von 9:00 bis 16:30 h, dafür kann die andere dann die Spätschicht von 10:00 bis 17:30 h übernehmen. Samstags wechseln wir uns ab. Unsere Anleiterin gibt uns ein Gefühl von Zuhause, unser Umgang ist sehr vertraut und offen.
Kannst du den Umgang mit euren Gästen beschreiben?
Insgesamt nehmen mich die Gäste sehr liebevoll auf, sind nett, freundlich und dankbar, dass ich da bin. Ich hatte am Anfang Angst: Wer weiß was diese Menschen erlebt haben? Aber ich habe keine Furcht und keine Abwehr, ich versuche offen zu sein und viel zu zuhören. Ich lerne viel aus den Erinnerungen der alten Menschen, viel über erlebte Geschichte in diesem Land. Ich frage viel ohne neugierig zu sein. Dadurch hat sich meine Sprache verbessert. Manchmal ist so ein Tag mit Menschen, die dement sind, auch witzig. Ich musste neulich sehr schnell durch den Flur laufen, von ganz vorne bis nach hinten und wieder zurück. Da sprach mich eine alte Dame an, an der ich vorbeigelaufen bin: Na, dich gibt es wohl zweimal, kommst einmal aus dieser Richtung und dann wieder aus der anderen. Es gibt auch Bemerkungen, die nicht nett sind. Da lernt man Grenzen zu setzen. Aber ich bin nicht böse. Ich bleibe freundlich.
Ihr habt ja auch Seminare mit anderen Freiwilligen zusammen. Was erlebst du da?
Bei den Seminaren war der Kontakt zu den anderen Freiwilligen sehr wichtig. Wir schreiben uns immer mal. Tauschen uns aus über die Arbeit. Manchmal sind Seminare aber auch langweilig. Außer wenn wir selbst kochen oder Kommunikationstraining machen. Davon hätte es mehr sein dürfen, das kann man gut brauchen.
Wenn dich eine Freundin fragt: Kannst Du den Freiwilligendienst empfehlen?
Unbedingt. Man lernt zwar viel in der Schule. Den Umgang mit Menschen lernt man dort nicht. Ich weiß jetzt wie Arbeit ist. Es ist so: Ob man da ist oder nicht, ist in der Schule nur für einen selbst entscheidend. Bei der Arbeit mit Menschen, wenn andere meine Unterstützung brauchen, ist es schon wichtig, ob ich da bin. Auch für die Kolleginnen spielt es eine Rolle, ob ich pünktlich bin. Wenn ich nicht komme, fehlt eine Kraft, die anderen müssen dann für mich mitarbeiten. Ich habe Verantwortung für die Arbeit, für andere Menschen. Sie verlassen sich auf mich, sie brauchen mich. Das ist ein gutes Gefühl.